Dehnen – Mythen und Fakten

Frau beim Dehnen

*Das Titelbild wurde mit openart.ai generiert

Viele Menschen möchten ihre Beweglichkeit verbessern, endlich den Spagat lernen oder ihre Verspannungen lindern. Doch wo sollte man beginnen? Rund um das Thema Dehnen und seine Effekte ranken sich zahlreiche Mythen. Sportler und Trainer verbreiten oft sehr unterschiedliche und teils falsche Aussagen. Bei genauer Betrachtung der aktuellen Studienlage erweisen sich viele dieser Behauptungen als unhaltbar. In diesem Artikel fassen wir einige Mythen und Fakten zusammen und präsentieren die aktuelle Studienlage, um Klarheit zu schaffen.

Dehnen, ein Sammelsurium an Mythen

Warum herrscht rund um das Thema Dehnen so viel Verwirrung? Grundsätzlich gibt es im Sport viele Mythen und fehlerhafte Aussagen. Beim Dehnen kommt jedoch ein zusätzlicher Faktor ins Spiel: Die Ergebnisse sind schwerer messbar als in vielen anderen Bereichen. Fortschritte in Kraft und Ausdauer lassen sich meist leichter und präziser messen als Verbesserungen in der Beweglichkeit. Dies ist vermutlich ein Grund, warum sich so viele Mythen um das Thema Dehnen ranken.

Kannst du beispielsweise sagen, welche dieser „Fakten“ der Wahrheit entsprechen, und welche doch bloß Mythen sind?

  • Dehnen vor dem Sport senkt das Verletzungsrisiko
  • Dehnen hilft gegen Muskelkater
  • Dehnen verlängert die Muskeln, ohne Dehnen verkürzen deine Muskeln
  • Dehnen verbessert deine Performance
  • Dehnpositionen müssen für mehrere Minuten am Stück gehalten werden
  • Man kann nicht genug dehnen
  • Dehnen muss schmerzhaft sein

Was davon entspricht der Wahrheit, und was sind bloß Mythen? Sehen wir es uns an.

Dehnen vor dem Sport senkt das Verletzungsrisiko

So wie die Aussage, dass Dehnen das Verletzungsrisiko senkt, kursiert auch die Behauptung, dass Dehnen das Verletzungsrisiko steigert. Doch was stimmt nun? Tatsächlich gibt es vereinzelte Studien, die eine Tendenz in die eine oder andere Richtung aufzeigen. Größere Studien und insbesondere Meta-Analysen konnten jedoch keinen klaren Zusammenhang zwischen Dehnen vor dem Sport und dem Verletzungsrisiko feststellen (McHugh et al., 2010).

Ein allgemeines Aufwärmprogramm scheint zur Verletzungsprävention wirksamer zu sein. Der Effekt von Dehnübungen, die in das Aufwärmprogramm integriert sind, bleibt teilweise unklar. In bestimmten Sportarten wie Ballett oder Kickboxen ist Dehnen jedoch notwendig, um einen möglichst großen Bewegungsumfang zu erreichen.

Anders verhält es sich, wenn wir über generelle Flexibilität sprechen. Studien deuten darauf hin, dass sowohl extreme Hyperflexibilität als auch Inflexibilität ein erhöhtes Verletzungsrisiko bedeuten können (Thacker et al., 2004). Ein langfristiges Dehnprogramm kann daher potenziell das Risiko von Verletzungen reduzieren, wobei intensives Dehnen unmittelbar vor der sportlichen Betätigung keinen positiven Effekt zu haben scheint.

Dehnen schützt vor Muskelkater

Dass Dehnen vor Muskelkater schützt oder hilft diesen schneller loszuwerden ist ein Mythos. Wie bereits in unserem letzten Artikel Muskelkater: Ursachen, Regeneration und Trainingstipps beschrieben wurde diese Annahme untersucht und hat sich als nicht haltbar erwiesen.

Dehnen verlängert die Muskeln

Diese Aussage wird inzwischen oft als Mythos abgetan. Es gibt Hinweise auf strukturelle Anpassungen, also Verlängerungen des aktiven und passiven Gewebes, doch konnte ich keine eindeutigen Beweise dafür oder dagegen finden. Es gibt jedoch Studien, die darauf hindeuten, dass längeres Ruhigstellen von Muskeln, wie in einer Mausstudie untersucht (Williams et al., 1973), sowie die ungünstige Positionierung der Muskulatur in einer verkürzten Stellung, z.B. durch das Tragen von High Heels über einen längeren Zeitraum (Csapo et al., 2010), tatsächlich zu einer Verkürzung der Muskulatur führen kann.

Inzwischen ist jedoch klar, dass die Beweglichkeit maßgeblich durch andere Faktoren beeinflusst wird. Entscheidend für eine bessere Beweglichkeit ist nicht die Länge der Muskeln oder anderer passiver Strukturen wie der Bänder, auch wenn es hierbei vorteilhafte und weniger vorteilhafte Ausprägungen gibt. Stattdessen steigt durch das Dehnen die Schmerztoleranz, und unser Körper lässt mehr Bewegung zu, ohne sich aus „Angst“ vor Verletzungen zu sperren.

Dehnen verbessert die Performance

Eine Meta-Analyse von 62 relevanten Studien zum Einfluss von Dehnen auf die Performance hat sich dieser Frage ausführlich gewidmet (Peck et al., 2014). Dabei haben die Autoren untersucht, welchen Einfluss verschiedene Dehnmethoden auf Kraft, Explosivität, Geschwindigkeit, Agilität und Ausdauer haben. Das Ergebnis der Analyse war, dass statisches Dehnen negative Auswirkungen auf alle diese Bereiche hat, wenn es kurz vor den Messungen durchgeführt wird. Statisches Dehnen hat also allem Anschein nach keine positiven Auswirkungen auf die Performance von Athleten in den Bereichen Kraft, Geschwindigkeit und Ausdauer.

Anders verhält sich das mit dem dynamischen Dehnen. Das aktive Bewegen der Gelenke durch den vollen Bewegungsumfang, ohne ein langes statisches halten der Position scheint positive Auswirkungen auf Kraft und Explosivität sowie Geschwindigkeit und Agilität zu haben. In Bezug auf Ausdauer gab es zu wenige Studienergebnisse um eine Aussage über den Effekt treffen zu können.

Beim PNF-Dehnen (Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation), bei dem zwischen statischer Dehnung, aktivem Anspannen und Entspannung gewechselt wird, gab es zum Zeitpunkt der Meta-Analyse nur wenige Studien. Die vorhandenen Studien zeigten jedoch eine Tendenz zu negativen Effekten, ähnlich denen des statischen Dehnens.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass dynamisches Dehnen die einzige Methode ist, die unmittelbar vor sportlicher Aktivität durchgeführt, positive Auswirkungen auf Kraft, Explosivität, Geschwindigkeit und Agilität hat. Statisches und PNF-Dehnen haben tendenziell negative Auswirkungen auf diese Faktoren.

Wie dehnen wir richtig?

Die letzten Aussagen, sehen wir uns gemeinsam an, unter der Kernfrage, „Wie dehnen wir richtig?“.

Beginnen wir mit der Frage nach der Methode, also statisches Dehnen, PNF, Contract-Relax, dynamisch, etc. Hierzu gibt es bereits viele Meinungen. Während in einer Meta-Analyse (Lempke et al., 2016) kein Unterschied zwischen statischem Dehnen und PNF festgestellt wurde, zeigte eine andere Studie (Kay et al., 2015), dass die Contract-Relax-Methode (Anspannen-Entspannen) bessere Ergebnisse als klassisches statisches Dehnen erzielt. Ebenso könnte aktives Dehnen Vorteile gegenüber passivem Dehnen bieten (Roberto et al., 2010).

Eine Studie aus dem Jahr 1994, die sich auf statisches Dehnen konzentrierte, kam zu dem Schluss, dass das Halten der Position für 30 Sekunden am effektivsten ist. 15 Sekunden erzielten geringere Ergebnisse, während 60 Sekunden ähnliche Ergebnisse brachten(Bandy et al., 1994). Andere Studien deuten jedoch darauf hin, dass die Dauer einzelner Dehnungen weniger relevant ist und die Gesamtdauer des Dehnens pro Tag entscheidender ist (Cipriani et al., 2003). Die optimale Dauer pro Muskel könnte, laut einer neueren Meta Analyse von 2024, bei 3 Minuten pro Einheit und nicht mehr als 8 Minuten je Woche liegen (Ingram et al., 2024). Andere Studien legen nahe, dass eine höhere Frequenz und Gesamtdauer vorteilhaft sind (Cipriani et al., 2012). So stellten sie fest, dass Gruppen, die dreimal pro Woche dehnten, geringere Ergebnisse erzielten als Gruppen, die zweimal täglich an drei Tagen pro Woche, täglich oder zweimal täglich dehnten.

Was bedeutet das für unser Trainingsprogramm? Regelmäßiges Dehnen mit 5-7 Einheiten pro Woche scheint bessere Effekte zu erzielen als 3 oder weniger Einheiten. Wer an einem Tag ausfällt und am nächsten Tag mehr Zeit hat, kann auch zwei Einheiten an einem Tag absolvieren. Statisches Dehnen ist effektiv, aber aktives Dehnen oder Contract-Relax-Dehnen könnten noch mehr helfen. Da die meisten Studien nur über 4-8 Wochen gehen und es insbesondere zu fortgeschrittenen Positionen weniger Untersuchungen gibt, würde ich eine Mischung empfehlen, die sowohl die passive Beweglichkeit als auch die aktive Kontrolle trainiert.

Das bedeutet Einheiten von 2-3 Minuten pro Muskelgruppe, mit 3-6 Sätzen zu je 30-60 Sekunden, welche passive, wie auch aktive Dehnübungen enthalten können, dürften sich als besonders effektiv erweisen.

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